Donnerstag, August 24, 2006

THEORETIKER DER MODERNE

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Aktualität meint im Alltag das, was »up to date«, was »angesagt« ist, mit einem der finstersten Worte unserer Tage den »Zeitgeist«, das, was an der Oberfläche kurz glimmt, zwar bald vorbei ist, jetzt jedenfalls die Aufmerksamkeit aller auf sich zieht. Benjamin drehte diese Bestimmung um. Aktualität ist bei ihm ein mystischer Begriff. Damitetwas zur Aktualität gelangen kann, ist an ihm eine Sprengarbeit nötig. Wer vollbringt diese Arbeit? Es ist entweder der Geschichtsinterpret oder das revolutionäre Proletariat. Beiden eignet auf ihre Weise die Kraft, Geschichtlichem zur Aktualität zu verhelfen.

Die Sturzflut, genannt Apokatastasis, mit der bei Benjamin die Erlösungsarbeit an der Vergangenheit die Gegenwart belehnt, führt im Stadium ihrer Vollkommenheit zu dem »Bildraum« vollkommener Aktualität,der identisch ist mit der Ankunft des »Messias«, der Erlösung, der klassenlosen Gesellschaft. Der Geschichtsinterpret hat damit eine Funktion, die ganz nur theologisch zu begreifen ist. Sie ist indessen kontemplativ nicht mehr zu bewältigen; sie kann nur erfüllt werden im Kontext der revolutionären Praxis. Diese Praxis ihrerseits geht schon in ihrer KP-marxistischen, erst recht in ihrer sozialdemokratischen Verfassung mit schweren Defiziten einher: sie orientierte sich an einer Teleologie und an einem Fortschrittsgedanken, die auf einen geheimen Positivismus verweisen. Diesen zu durchschlagen ist der anarchistische und destruktive Grundgestus der Benjaminschen Gedankenwelt.

Mit dem Programm, das Kontinuum der Geschichte, wie es der Historismus episch ausbreitet, aufzusprengen, will Benjamin verschüttete revolutionäre Potentiale zutage fördern. Er stellt die Geschichte still, um »dialektische Bilder« aus ihr herauszubrechen. Benjamin exerziert diese Übung anhand des Trauerspiels im Barock, der frühromantischen Kunsttheorie, anhand der »Traumbilder« der Gründerzeit und des Surrealismus.

In den späten dreißiger Jahren, als die Kriegsvorbereitungen des deutschen Faschismus und die Schwäche seiner Gegner unübersehbar waren, als die Moskauer Schauprozesse und schließlich der Hitler-Stalin-Pakt die westeuropäische Intelligenz erschütterten, formulierte Benjamin eine Kritik des historischen Materialismus, die aktuelle politische Brisanz hatte.

Heute lesen wir sie unter einem veränderten Aspekt, dessen welthistorische Bedeutung jedoch kaum weniger bedeutsam ist. Benjamin sieht, explizit in der viel diskutierten ersten seiner Thesen »Über den Begriff der Geschichte«, im Marxismus eine Dimension unterschlagen, die er in dem Begriff Theologie zusammenfaßt:

»Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzug erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, dasauf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seitendurchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophievorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ›historischen Materialismus‹ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.« (I, 693)

Ohne die Dimension, die der »Zwerg« vertritt, prognostiziert Benjamin ein Abgleiten der welthistorischen revolutionären Praxis in ein affirmatives Fortschrittsvertrauen, das in der Katastrophe mündet.

So weit, so gut / so schlecht. Im Jahre 1990 bedarf es keines besonderen Hinweises, daß die Verfallsgeschichte des Marxismus in die Katastrophe eingemündet ist. Wenn heute auf dem DDR-Staatsratsgebäude die Bundesfahne flattert, die Sowjetunion ihre Ökonomie kapitalistisch Positionen annähern muß, die Marxisten überall auf der Welt grundlegende Revisionen angewiesen sind – welches Gewicht hat dabei der Benjaminsche Einspruch?

Ein Antwortversuch von Jürgen Habermas aus dem Jahre 1972 erlangt angesichts der Ereignisse in Osteuropa eine ganz neue Brisanz:

»… Benjamins Kritik des leeren Fortschritts zielt gegen einen freudlosen Reformismus, dessen Sensorium längst abgestumpft ist gegen die Differenz zwischen der verbesserten Reproduktion des Lebens und einem erfüllten Leben, sagen wir eher: einem Leben, das nicht verfehlt ist. (…) Hier ist die Rede nur vom Zweifel, von dem Zweifel, den Benjamins semantischer Materialismus nahelegt: dürfen wir die Möglichkeit einer bedeutungslosen Emanzipation ausschließen? Emanzipation heißt in den komplexen Gesellschaften partizipatorische Umformung administrativer Entscheidungsstrukturen. Könnte eines Tages ein emanzipiertes Menschengeschlecht in den erweiterten Spielräumen diskursiver Willensbildung sich gegenüber treten und doch des Lichts beraubt sein, in dem es sein Leben als ein gutes zu interpretieren fähig ist? Die Rache einer für die Legitimation von Herrschaft über die Jahrtausende ausgebeuteten Kultur bestünde dann, im Augenblick der Überwindung uralter Repressionen, darin, daß sie keine Gewalt, aber auch keinen Gehalt mehr hätte; ohne die Zufuhr jener semantischen Energien, denen Benjamins rettende Kritik galt, müßten die endlich folgenreich durchgesetzten Strukturen des praktischen Diskurses veröden. (…) Denn unter historischen Umständen, die den Gedanken an Revolution verbieten und die Erwartung lange anhaltender umwälzender Prozesse nahelegen, muß sich auch die Vorstellung von der Revolution aus dem Bildungsprozeß einer neuen Subjektivität wandeln. Dazu mag Benjamins konservativ-revolutionäre Hermeneutik, die die Geschichte der Kultur entziffert, einen Weg weisen.« (1)

Das Anschwellen der Literatur über Benjamin in den letzten Jahren nimmt schon Konturen eines Krankheitsbildes an. Dazu gehört, daß die Krankheit selbst bereits analysiert wird: einen breiten Raum innerhalb dieser Elephantiasis besetzt die Frage, wie die Faszination Benjamins zu erklären sei. Heerscharen europäischer und US-amerikanischer Intellektueller arbeiten in dem Steinbruch Benjamin Profile heraus, in denen sie sich selbst wiedererkennen. Es gibt keinen Grund, dieses Verfahren zu denunzieren. Benjamins eigenes Netzwerk lädt dazu ein: es ist offen für Extrapolation nach allen Seiten. Diese eigentümliche Struktur der Offenheit erklärt nicht nur die gegenwärtige Aufmerksamkeit, sondern, vielleicht auch die Mißachtung zu Lebzeiten. Ist also zwischen genuiner Interpretation und Mißverständnis nicht mehr zu differenzieren, wird Benjamin zum Exponenten des postmodernen »anything goes«? Lohnender als die Antwort auf diese Frage mag die Einsicht sein, daß die Auslegbarkeit nach vielen Seiten, besser: die schier unbegrenzte Möglichkeit, ganz verschiedene Seiten seines Denkens in einer unendlich erscheinenden Variabilität zueinander in Beziehung zu setzen, tief in die Geheimnisse seines Werks hineinführt. Verfolgt man diesen Gedanken weiter, dann zeichnet sich in seinem nie erreichbaren Zentrum womöglich die Wahrheit ab, daß keine der vieltausendfachen Interpretationen den Weg zum »wahren« Benjamin weist; daß das »Rätsel Benjamin« nicht so sehr an Inhalten, als vielmehr in der Verfassung, dem Aggregatszustand seiner Gedanken ansichtig wird. Deren Strahlkraft geht vielleicht weniger von einzelnen Inhalten, als von der Versuchsanordnung seines Denkens aus. Diese könnte formelhaft so beschrieben werden: Sie überläßt sich der Aperspektivität, ohne den Zusammenhang aufzugeben. Wenn Benjamin untentwegt von Blitz, Choc, Montage, Aufsprengen des Kontinuums spricht, so sind damit auf der formalen Ebene auch die Leerstellen bezeichnet, die nach der destruktiven Aufkündigung der Perspektivität die Voraussetzungen für die Emanzipation des Einzelnen bilden. Das Fragment, Benjamins Erbteil der Frühromantik, oder die Monade sind dabei nur Übergangserscheinungen; zwischen den Ruinenteilen der Sprengarbeit wird ein neuer Zusammenhang gestiftet, der die Leerstellen nicht überspielt, sondern begründet. Benjamins Freund Adorno hat diesen Aggregatzustand seines Denkens zutreffend mit der Neuen Musik verglichen:

»Die innere Zusammensetzung seiner Prosa ist unbequem auch in der Verbindung der Gedanken, und nirgends ist es notwendiger als hier, falsche Erwartungen wegzuräumen, wenn man nicht in die Irre geratenwill. Denn die Benjaminsche Idee in ihrer Strenge schließt wie Grundmotive so auch deren Entwicklung, Durchführung, den ganzen Mechanismus von Voraussetzung, Behauptung und Beweis, von Thesen und Resultaten aus. So wie die Neue Musik in ihren kompromißlosen Vertetern keine ›Durchführung‹, keinen Unterschied von Thema und Entwicklung mehr duldet, sondern jeder musikalische Gedanke, ja jeder Ton darin gleichnahe zum Mittelpunkt steht, so ist auch Benjamins Philosophie ›athematisch‹. Dialektik im Stillstand bedeutet sie auch insofern, als sie in sich eigentlich keine Entwicklungszeit kennt, sondern ihre Form aus der Konstellation der einzelnen Aussagen empfängt. Daher ihre Affinität zum Aphorismus. Zugleich jedoch erfordert das theoretische Element Benjamins stets wieder große gedankliche Zusammenhänge. Seine Form hat er einem Gewebe verglichen, und ihr überaus verschlossener Charakter wird davon bedingt: die einzelnen Motive sind aufeinander abgestimmt und ineinander verschlungen ohne Rücksicht darauf, durch ihre Folge einen Denkprozeß abzubilden, etwas ›mitzuteilen‹ oder den Leser zu überzeugen.

Das Maß der Erfahrung, die jeglichen Satz Benjamins prägt, ist die Kraft, das Zentrum unablässig in die Peripherie zu setzen, anstatt das Periphere, wie es die Übung der Philosophen und der traditionellen Theorie verlangen, aus dem Zentrum zu entwickeln.«

Benjamin setzt an die Stelle »des durchlaufenden Gedankengangs« eine »Konstellation von Ideen (…), und diese Ideen kristallisieren sich jeweils im Detail als in ihrem Kraftfeld.« Adorno geht noch einen Schritt weiter, indem er erkennt: »Dies literarische Kompositionsprinzip vertritt kaum einen geringeren Anspruch als den, Benjamins Vorstellung von der Wahrheit selbst auszudrücken.«(2)

In der Gegenwart hat dieses Modell, das kurz nach der Jahrhundertwende zunächst in der theoretischen Physik formuliert wurde und um 1910 inden avancierten Künsten eine Entsprechung zu finden begann, Einzug in das Alltagsbewußtsein gehalten. (Diesen Zusammenhang untersuchte das Projekt des Werkbund-Archivs »Der Zerfall eines alten Raumes«, 1988). Benjamin ist heute der Theoretiker der Vernetzung – einer objektivenTendenz, die uns von seiten der Macht gegenübertritt und der die an Emanzipation interessierten Kräfte nur dann zu begegnen vermögen, wenn sie diese Tendenz »gegenzuformulieren« vermögen. Das eigentliche Geheimnis der Faszination Benjamins für die Gegenwart könnte also darin liegen, daß sie von der Ahnung der Aufgabe durchdrungen ist, völlig inkommensurabel Erscheinendes in Beziehung setzen und zur Erfüllung dieser Aufgabe neue Formen des Denkens und Erkennens finden zu müssen.

Benjamin, listig und »unfrankfurterisch«, las die Massenkultur und die von ihr verbreiteten Mythen als Quelle sowohl der Bewußtseinsvernebelung als auch des möglichen Erwachens.

Heute, da eine der letzten mythenbesetzten Städte der alten Welt – OstBerlin – unausweichlich verschwindet zugunsten der Stadt genannten Anhäufung von durchrationalisierter und durchgestylter Leere; da nichts Gealtertes mehr der Alternative entgeht, entweder durch Vernichtung oder durch Überkonservierung liquidiert zu werden, kann der Kampf gegen den Mythos, soweit er von der Dingwelt repräsentiert wird, als verscheucht angesehen werden. Wie das Ungeheuer in »Alien« oder anderen Horrorfilmen der 70er Jahre ist das überwunden geglaubte Monster jedoch nach wie vor unsichtbar präsent.

Der Mythos hat in der Dingwelt keine Schauseite mehr; ja aber wo steckt er dann? Er schaut dich an aus den verlorenen Augen des Managers, der einen Augenblick hinter seinen forsch dreinschauenden Kollegen zurückbleibt. Er hinterläßt Spuren im Kaugummi-Atem des rassistischen Schlägers in der U-Bahn. Er glitzert noch in den Tränen der Olympiasiegerin beim Erklingen ihrer Nationalhymne.

Aus diesen Residuen des Mythos ist bei aller Dialektik kein befreiender Funke mehr zu schlagen. 50 Jahre nach Benjamin ist die Dialektik des Mythos für die Gegenwart stillgelegt – aber in Totenstarre. DasTodesdatum ist durchaus angebbar. Noch um 1965 konnte das Jüngstvergangene – die Ästhetik der 50er Jahre – mythisch verklärt werden. Mit dem Nachlaß der 70er Jahre gelingt das nicht mehr. Es ist das Jahrzehnt, in dem die Elektronik Einzug in den Alltag hielt.

Der Mythos, der aus dem Gesicht der Dingwelt verschwunden ist, ist weder besiegt noch versöhnt. Vielleicht ist es das, was die Science-fiction-Filme der 70er Jahre uns ankündigen wollten. Der Mythoshat den Augenblick des möglichen Erwachens überlebt.

Anmerkungen:

(1) Jürgen Habermas, Bewußtmachende und rettende Kunst – die Aktualität Walter Benjamins, in: Zur Aktualität Walter Benjamins, hg. v. Siegfried Unseld, Frankfurt/M., 1972, S. 219f. Zurück

(2) Theodor W. Adorno, Über Walter Benjamin, Frankfurt/M. 1990, S. 43f., S. 37 und S. 38.

Text: Eckhard Siepmann
Aus: Bucklicht Männlein und Engel der Geschichte: Walter Benjamin,Theoretiker der Moderne; Ausstellung des Werkbund-Archivs im Martin-Gropius-Bau.28.12.1990 - 28.04.1991.

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